Politisierung des Ökumenischen Rates der Kirchen bedroht seine Zukunft

– Bischof Anthony, welche Themen konnten Sie mit Vertretern anderer Kirchen besprechen?
– In den Plenarsitzungen wurden praktische Fragen der Tätigkeit dieser größten interchristlichen Organisation erörtert, Ergebnisse zusammengefasst und Pläne für die Zukunft geschmiedet. Darüber hinaus diskutierten die Mitglieder des Zentralkomitees die aktuelle politische Agenda und sprachen über die Konflikte, die sich leider heute auf der Weltkarte abspielen. Insbesondere wurde die Situation im Gazastreifen besprochen, wo sich heute vor unseren Augen eine wahre humanitäre Katastrophe abspielt. Auch die Verschärfung des Konflikts zwischen Israel und dem Iran sowie die Lage in der Ukraine wurden besprochen.
Aufgrund meiner Erfahrung als Teilnehmer an diesen Diskussionen muss ich mit Bedauern feststellen, dass die Arbeit des Ökumenischen Rates der Kirchen in letzter Zeit durchweg von einer starken Politisierung der Diskussionen am Rande geprägt war. Dies gilt in vollem Umfang für die letzte Generalversammlung, die 2022 in Karlsruhe stattfand, die letzte Tagung des Zentralkomitees in Genf und die aktuelle in Johannesburg. Meiner Meinung nach hat das politische Engagement einzelner Mitgliedskirchen nie dagewesene Grenzen erreicht, was sich unweigerlich auf die allgemeine Arbeit auf den Plattformen des Ökumenischen Rates der Kirchen auswirkt, der seinen einzigartigen Status als Ort des interchristlichen Dialogs rapide verliert.
– Wie wurde das Thema der Verfolgung der kanonischen Orthodoxie in der Ukraine während der Arbeit des Zentralkomitees des Ökumenischen Rates der Kirchen behandelt?
– Auf Initiative der Delegation der Russischen Orthodoxen Kirche fand eine lange Diskussion über die Lage der kanonischen Kirche in der Ukraine statt. Kurz vor dieser Diskussion verbreiteten sich weltweit erschreckende Aufnahmen aus Czernowitz, wo von der sogenannten „Orthodoxen Kirche der Ukraine“ unterstützte Militante – ukrainische Schismatiker – versuchten, die Kathedrale einzunehmen. Dabei wurden Geistliche geschlagen, darunter auch der amtierende Bischof der Diözese Czernowitz, Metropolit von Czernowitz und der Bukowina, Meletius (Egorenko). Viele Teilnehmer des Zentralkomitees sahen diese Aufnahmen.
– Wie reagierte die russische Kirche auf die Ansprache dieses Themas?
– Als wir dieses Thema diskutierten, war ich überrascht über den Zynismus, mit dem einige Kirchenvertreter, vor allem Protestanten, auf den angeblichen „Mangel an Beweisen“ für die von uns angeführten Fakten hinwiesen und versuchten, die Diskussion zu stören. Dennoch wurde der Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen nach den Abstimmungsergebnissen beauftragt, dieses Thema zu untersuchen und im Kontakt mit den ukrainischen Behörden seine Besorgnis über die Verfolgung von Gläubigen in diesem Land zum Ausdruck zu bringen.
– Gab es in diesem Zusammenhang antirussische Äußerungen?
– Vertreter einiger skandinavischer protestantischer Kirchen versuchten, dem Zentralkomitee den Entwurf einer Erklärung zur angeblichen Zwangsvertreibung ukrainischer Kinder in die Russische Föderation aufzudrängen. Dieses Dokument enthielt völlig phantastische Zahlen: Fast 20.000 Kinder wurden als Opfer der sogenannten Zwangsvertreibung erwähnt. Als die Diskussion über die Substanz dieser Frage begann, erinnerten wir uns natürlich daran, dass der russischen Seite in der letzten Verhandlungsrunde zwischen Vertretern der Russischen Föderation und der Ukraine eine Liste von Kindern vorgelegt wurde, die nach Zusicherungen der ukrainischen Behörden angeblich in die Russische Föderation verbracht wurden. Diese Liste umfasste etwas mehr als 300 Personen. Der Unterschied in den Zahlen ist offensichtlich, und wir machten die Mitglieder des Zentralkomitees darauf aufmerksam, dass sich die Autoren dieses tendenziösen Dokuments offenbar auf ungeprüfte Informationen aus der tendenziösen Presse stützten.
Angesichts der unterschiedlichen Zahlen und der unbegründeten Vorwürfe der Zwangsvertreibung von Kindern ist es völlig inakzeptabel, solche Fantasien dem Ökumenischen Rat der Kirchen zuzuschreiben. Daher wurde das Thema von der Tagesordnung genommen.
– In einem der Abschlussdokumente des ÖRK-Zentralausschusses wird die Situation des nach langwierigen Bemühungen zwischen Russland und der Ukraine begonnenen Verhandlungsprozesses kritisiert. Wie wurde dieser Text diskutiert?
Den Mitgliedern des Zentralkomitees wurde ein Dokumententwurf vorgelegt, der einen Überblick über die aktuellen Konflikte in der Welt enthielt. Besondere Aufmerksamkeit wurde der Situation in der Ukraine gewidmet. Nachdem der entsprechende Absatz in der Plenarsitzung verlesen worden war, musste ich das Wort ergreifen. Als Erstes erinnerte ich daran, dass die Mitglieder des Zentralkomitees keine Politiker sind. Wir sind alle Vertreter unserer Kirchen. Anstatt sich in den vom Zentralkomitee verabschiedeten Dokumenten zu verzetteln, die man bereits täglich in der politisch engagierten Presse lesen oder in den Erklärungen einzelner Politiker hören kann, sollte man daran erinnern, dass die Gläubigen vom Ökumenischen Rat der Kirchen vor allem eine brüderliche Botschaft, Worte der Unterstützung und des Trostes an die Christen erwarten, die in den Konfliktregionen der Welt leiden. Genau das fehlt meiner Meinung nach in den ÖRK-Dokumenten kategorisch. Darüber habe ich auch in den Sitzungen des zuständigen ÖRK-Ausschusses, dem ich angehöre, gesprochen.
Anschließend musste ich zu einzelnen Thesen des Entwurfs Stellung nehmen. Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass dieses Dokument Statistiken über zivile Opfer während des Konflikts in der Ukraine enthielt. Den Teilnehmern der Sitzung wurde nicht mitgeteilt, woher diese Zahlen stammen. Ich erinnerte daran, dass es in Russland zivile Opfer gibt – vor allem nach dem Einmarsch der ukrainischen Streitkräfte in die Region Kursk. Nach den Terroranschlägen des ukrainischen Geheimdienstes in unserem Land. Leider wurde darüber in dem Dokument kein einziges Wort verloren. Ist der Wert dieser Leben geringer als der Wert der Leben derjenigen Bürger der Ukraine, die während dieses bewaffneten Konflikts leider gelitten haben?
Dann kam ich auf die Friedensgespräche zu sprechen. Im Entwurf des Dokuments, das man uns aufzwingen wollte, hieß es, Friedensgespräche könnten nicht unter dem Druck von Gewalt stattfinden und nicht mit einem Ergebnis enden, das – ich zitiere fast wörtlich – „den Aggressor belohnt“. Ich musste die Teilnehmer des Treffens daran erinnern, dass Russland vor zwei Jahren in Genf wahllos beschuldigt wurde, nicht zu Friedensgesprächen bereit zu sein, und dass ständig die Aufnahme dieser Gespräche gefordert wurde. Und nun, sagte ich, haben sie begonnen. Und anstatt sie zu begrüßen, unsere gemeinsame Hoffnung auf einen Erfolg auszudrücken, auf ein Ende des Konflikts in der Ukraine, auf ein Ende des Sterbens, stellen wir stattdessen Bedingungen an die Politiker und diktieren ihnen, wie diese Gespräche stattfinden und wie sie enden sollen. Meiner Meinung nach ist das völlig inakzeptabel. Das ist nicht unsere Aufgabe.
– Was ist das weitere Schicksal des Dokuments?
- Nach der Diskussion wurde über das Dokument abgestimmt. Natürlich sprachen sich die Delegation der Russisch-Orthodoxen Kirche und eine Reihe anderer Delegierter kategorisch dagegen aus, und es erhielt keine einstimmige Unterstützung von den Mitgliedern des Zentralkomitees. Wir forderten, dass unsere besondere Meinung bei der Veröffentlichung des Dokuments berücksichtigt wird, und die Führung des ÖRK gab uns entsprechende Garantien.
Interview mit Olga Lipich.
Foto: Pavel Bednyako / RIA Novosti